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Schwarzer Orpheus – weißer Ödipus

Bemerkungen zur Forschungsethik in den Geisteswissenschaften

Fragen der Forschungsethik stellen sich nicht nur in den Naturwissenschaften, wo sie ja seit langem berücksichtigt werden, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Auch hier wird die ethische Dimension des Forschens zunehmend zum Gegenstand der Selbstreflexion – und hier artikuliert sich dabei ein wachsender Widerwille gegen das akademische Prinzip des angestrengten Immer-noch-mehr-wis­sen-­Wollens um der immer noch besseren Kontrolle der Gegenstände willen, das offenbar das Forschungsprinzip abendländischer Wissenschaft überhaupt zu sein scheint. Ein wissenschaftlich gelöstes Problem ist erledigt im Sinne einer destruierenden Einpassung in das immer feinteiliger werdende Raster der Rationalität. Ein Erfahrungsbereich nach dem anderen wird seiner Unmittelbarkeit entrissen und „aufgeklärt“. Übrig bleiben werden vielleicht einige wenige „theorieresistente Lebensreste“, doch davon abgesehen steht zu befürchten, dass die Welt nicht mehr bewohnbar sein wird, wenn wir sie vollends verstanden haben.

Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von einem „Ekel vor einer bestimmten Form der Selbsterhaltung“, von einem „sensiblen Zusammenzucken vor dem kalten Hauch einer Realität, in der alles Denken Strategie geworden ist, in der Wissen Macht ist und Macht Wissen.“

Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Ffm. 1983, S. 12.

Und Paul Feyerabend meint lakonisch:

„ … wenn man die Sache irgendwie analysiert, dann löst sich das alles langsam auf.“

In einem Interview in der „taz“ vom 26.2.1994.

Dieses sich so artikulierende Unbehagen ist nicht neu, es lässt sich in einen theoriegeschichtlichen Zusammenhang stellen, der vielleicht in der Romantik beginnt, über Nietzsche zur Kritischen Theorie führt und gegenwärtig in die neuere französische Philosophie mündet. In all diesen Denkansätzen wird eine mehr oder weniger harsche Kritik am deduktiven Denken geübt und nach erkenntnistheoretischen Alternativen gesucht, die einen weit behutsameren Umgang mit den Forschungsgegenständen ermöglichen und erfordern würden. In diesem Suchen spiegelt sich m. E. eine tiefe Sehnsucht nach Transzendierung der Oberfläche, nach Einsicht in den dahinter- oder darunter liegenden Prozess, welcher die Handlungsmotive der Menschen und die Entwicklungsgesetze ihrer Geschichte begründet. Der Typus dieses Wissens wäre vielleicht „gnostisch“ zu nennen: Einblick gewährend in geheime Innen- oder Unterwelten, hermeneutisch – und daher ungenau – aber sensibel.­

Nietzsche stellt die strapaziöse Frage: „(…) wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsere Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu genießen! Und erst auf diesem nunmehr festen und granitenen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern als seine Verfeinerung! (…) hier und da begreifen wir es und lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurechtgedichteten, zurechtgefälschten Welt festhalten will, wie sie unfreiwillig-willig den Irrtum liebt, weil sie, die Lebendige, das Leben liebt!“

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Werke Bd. 3, München 1977, 8. Aufl. S. 589.

Darin steckt nun bereits jene hochkomplizierte und vielschichtige Rationalitätskritik, die schließlich zur Infragestellung der Moderne geführt hat. Nietzsche gilt als der Stammvater der postmodernen Klage, dass der Begriff die Bedeutung vergewaltige, (wobei dieses Verhältnis gerne mit dem Verhältnis männlich-weiblich kongruent gesetzt wird). Wissenschaftsgeschichte erscheint in diesem Licht nicht als Emanzipationsgeschichte, sondern als ein Prozess schleichender Zerstörung, und Aufklärung nicht mehr als Fortschritt, sondern als bedrohlich fortschreitende Unterwerfung der sinnlichen Erfahrungswelt unter die Herrschaft des „Geistes“. Bei Hegel steht am Ende dieses Vorgangs die „Schädelstätte“ als geschichtsphilosophische Metapher des absoluten Wissens. Erst an diesem Ende hat der absolute Geist in einem Selbstverschlingungsprozess alles Wissbare in sich hineingefressen.

Vgl. Klaus Heinrich: Arbeiten mit Ödipus. Basel/Ffm. 1993, S. 83 f.

Diagnostiziert und beklagt worden ist dieser Sachverhalt wohl häufig, was aber unpopulär und altmodisch erscheint, ist eine moralische Verurteilung der wissenschaftlichen Neugier. Sie genießt zwar allenthalben öffentliche Wertschätzung, erweist sich aber auch – zumal unter tiefenpsychologischem Aspekt – als aggressiver Akt des Eindringens in bisher unangetastete Erfahrungsbereiche, als „Schändung“ von unbekannten fremden Wesen und als gewaltsame Aufdeckung ihrer ungelüfteten Geheimnisse.   In einem sehr kurzen philosophischen Text Friedrich Hölderlins, der unter dem Titel „Urtheil und Seyn“ (StA Bd. 4) bzw. „Seyn Urtheil Möglichkeit“ ediert ist, klingt allein durch eine bestimmte Wortwahl der Sachverhalt an, dass die intellektuelle Tätigkeit des Urteilens eine Beschädigung des Wesens dessen, über das geurteilt wird, mit sich bringt.   „Seyn –, drükt die Verbindung des Subjects und Objects aus. Wo Subject und Object schlechthin, nicht nur zum Theil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Theilung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll zu verlezen, da und sonst nirgends kann von einem Seyn schlechthin die Rede seyn (…) Aber dieses Seyn muß nicht mit der Identität verwechselt werden. Wenn ich sage: Ich bin Ich, so ist das Subject (Ich) und das Object (Ich) nicht so vereiniget, daß gar keine Trennung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verlezen; im Gegenteil das Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich. (…) Urtheil. ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects, diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur=Theilung. Im Begriffe der Theilung liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objects und Subjects aufeinander, und die nothwendige Voraussezung eines Ganzen wovon Objekt und Subject die Theile sind (…)“

Friedrich Hölderlin: Seyn Urtheil Möglichkeit. In: Sämtliche Werke, „Frankfurter Ausgabe“ Bd. 17, 1991, S. 149 f.

So sachlich und zutreffend diese Feststellung klingt, so leidvoll war doch ihre Bedeutung für den Dichter. Hölderlin ist in diesen Dingen einer der Empfindlichsten, und sein Leiden an der „Verlezung“ des „Seyns“ durch das „Urtheil“ zieht sich durch sein ganzes Werk. Dabei hat diese Sehnsucht nach Ungetrenntheit von Subjekt und Objekt natürlich auch ihre Kehrseite: Sie zeigt sich psychologisch in mangelnder Widerstandskraft gegen den „Sog des Absoluten“ und birgt die Gefahr des Wahnsinnigwerdens, ein Schicksal, das Hölderlin ja auch ereilte und das er mit anderen Geistern teilt, deren Blick hinter die scheinhafte Oberfläche der Welt zu tief war.

Schauen wir uns in diesem Zusammenhang zunächst eine moralische Position an, die das Leiden an der zertrennenden und zerteilenden Wirkung von wissenschaftlicher Reflexion auf unmittelbare Erfahrung ernst nimmt und es nicht als seelische Unreife versteht: Es geht dabei um die kaum so zu bezeichnende „Auseinandersetzung“ zwischen Jean Paul Sartre und Frantz Fanon, dem schwarzen Antillaner und Autor von „Schwarze Haut – weiße Masken“, der in den 50er Jahren mit seinem Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“ zu einer wegweisenden Symbolfigur für viele Intellektuelle der Dritten Welt geworden ist. Fanon wurde 1925 als Sohn eines Bauern in Martinique geboren, studierte in Frankreich Medizin und Philosophie, wurde Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Algerien, wo er aus politischen Gründen demissionierte und dann für die Nationale Befreiungsfront, zeitweise als Botschafter der provisorischen algerischen Regierung in Accra, arbeitete. Er starb im Alter von nur 36 Jahren in New York an Leukämie.

In seinem 1952 erschienenen Buch „Schwarze Haut – weiße Masken“ schildert Fanon seinen Kampf um Selbstbehauptung gegen rassistische Vorurteile und seine Suche nach schwarzer Identität in einer von Weißen dominierten Welt. In einem Stakkato aufgewühlter, wild assoziativ aneinander gereihter Sätze artikuliert er darin ein Leiden an der Denkweise der Weißen, das zugleich eine hochsensible Form von Rationalitätskritik beinhaltet.

Frantz Fanon: Peau Noire, Masques Blancs. Paris 1952. Deutsch: Schwarze Haut – weiße Masken. Ffm. (Syndikat) 1980.

Fanon berichtet von der Vergeblichkeit seiner krampfhaften Suche nach Anerkennung („Die weiße, einzig ehrbare Welt verweigerte mir jede Mitwirkung (…) Ich sage euch, ich war eingemauert: weder mein gesittetes Benehmen, noch meine literarischen Kenntnisse, noch mein Verständnis der Quantentheorie fanden Gnade“).

Fanon, [wie Anm. 6], S. 75,77 [S. 112,114 im franz. Originaltext].

Er beschreibt in der Folge die Erleichterung und Bestätigung, die er schließlich in der „Négritude“ findet, jener sich poetisch darstellenden politisch-weltan­schau­lichen Bewegung im frankophonen Afrika der 40er und 50er Jahre, die in der amerikanischen Black-Power-Bewegung ihr ungefähres Gegenstück hat. Die „Sänger“ der Négritude, im wesentlichen der Senegalese Léopold Sédar Senghor (geb. 1906)

Senghor war von 1960 bis 1980 Staatspräsident von Senegal und 1968 Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

und der Antillaner Aimé Césaire (geb. 1913) hatten „in einer Art panischer Verzweiflung“ (Senghor) eine immense kulturelle Revolution ausgelöst, indem sie gegen den düsteren Horizont der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit Schwarzafrikas von den Kolonialmächten, die ihre Herrschaft mit der Theorie der „tabula rasa“ legitimierten, – diese Theorie besagt, dass in Afrika nichts erfunden, nichts geschaffen, nichts geschrieben wurde, dass es „vollkommen leer“ und darum aufzufüllen sei mit den Kulturgütern der Weißen

Vgl. Johannes Heising: Entwicklung und moderne Philosophie in Schwarzafrika. Wege zu einer unbekannten geisteswissenschaftlichen Tradition. Ffm. 1990, S. 44.

– die Bewegung der Négritude setzten als Befreiung von der Assimilation an die Weißen und als selbstbewusste Rückbesinnung auf die kulturellen Werte des eigenen Kontinents. Diese Werte stellen sich jedoch nicht als „ebenbürtige Äquivalente“ der weißen Kulturgüter dar, sondern quasi als deren Negation, als Stolz auf den Mangel einer naturwissenschaftlich-technisch begründeten Industriekultur und als radikales Bekenntnis zu einer ganz anders als die der Weißen beschaffenen Psyche. Césaire besingt

„jene, die nicht das Pulver erfunden haben und nicht den Kompass

jene, die nicht den Dampf bezwangen und nicht die Elektrizität

jene, die nicht die Meere erforschten und nicht den Himmel

aber ohne welche die Erde nicht wäre die Erde. […]

Äya für jene, die niemals etwas erfanden

für jene, die niemals etwas erforschten

für jene, die niemals etwas bezwangen

aber sich hingeben, ergriffen, dem Wesen der Dinge

unkundig der Schale, doch gepackt von der Schwingung der Dinge

nicht aufs Bezwingen bedacht, aber spielend das Spiel der Welt. […]

Hört nur die weiße Welt

wie sie die großen Anstrengungen leid ist

wie sich ihr Aufbegehren unter starren Sternen bricht

wie ihre blaugestählte Starrheit zerstört das Geheimnis des Fleisches

vernimm, wie aus den Siegen ihre Niederlagen tönen

vernimm ihr klägliches Gestolper in den großen Alibis.

Gnade! Gnade für unsere allwissenden einfältigen Besieger!“

Aimé Césaire: Cahier d’un retour au pays natal. Paris 1947, S. 77 f. Deutsch: Zurück ins Land der Geburt. Übersetzt von Janheinz Jahn, Frankfurt am Main 1962, S. 63, 65.

Senghor schreibt unter der Überschrift „Die negro-afrikanische Ästhetik“: „Man hat oft gesagt, der Neger ist ein Mensch der Natur. Er lebt traditionellerweise von der Erde und mit der Erde, im und durch den Kosmos. Er ist ein Sinnenmensch, ein Wesen mit offenen Sinnen, ohne Mittler zwischen Subjekt und Objekt, er ist Subjekt und Objekt zugleich. Er besteht zunächst aus Klängen, Düften, Rhythmen, Formen und Farben, er ist also Takt, bevor er Auge ist wie der europäische Weiße. Er fühlt mehr als er sieht: er fühlt sich. Denn in sich selbst, in seinem Fleisch empfängt und empfindet er die Strahlungen, die jedes Seinswesen aussendet. In Schwingung gebracht, antwortet er dem Anruf und gibt sich hin, geht vom Subjekt zum Objekt, vom Ich zum Du auf den Wellen des Anderen.“

Léopold Sédar Senghor: Négritude und Humanismus. Düsseldorf, Köln 1967, S. 156.

Und der Afroamerikaner Langston Hughes dichtet:

„Ich kannte Ströme: Ich kannte Ströme uralt wie die Welt und älter als das Blut in Menschenadern.

Meine Seele ward tief wie die Ströme (…)“

Langston Hughes: Der Neger spricht von Strömen. Zit. n. Senghor (1967), S. 12.

Fanon fühlt sich von diesen Texten verstanden, er glaubt darin gefunden zu haben, was er suchte, und bekennt: „Ich las es wieder und wieder. Auf der anderen Seite der weißen Welt grüßte mich eine märchenhafte Negerkultur (…). Ich begann rot zu werden vor Stolz (…). Da auf der Ebene der Vernunft keine Einigung möglich war, warf ich mich der Irrationalität in die Arme. Dem Weißen oblag es, irrationaler zu sein als ich (…), hier bin ich zuhause; ich bestehe aus Irrationalem; ich wate im Irrationalen. Irrational bis zum Hals. Und nun erklinge, meine Stimme!“

Fanon [wie Anm. 6], S. 81 [119].

Trotzig behauptet er: „Ja, wir Neger sind zurückgeblieben, einfach, frei in unseren Äußerungen. Weil der Körper für uns nicht in Gegensatz steht zu dem, was ihr Geist nennt. Wir sind auf der Welt. Es lebe das Paar von Mensch und Erde! Im übrigen helfen mir eure eigenen Literaten, euch zu überzeugen; eure weiße Zivilisation vernachlässigt die feinfühligen Reichtümer der Sensibilität.“

Fanon [wie Anm. 6], S. 83 [122].

Diese Rückwendung zu den Wurzeln ist ideengeschichtlich gesehen zweifellos eine romantische Bewegung. Im heutigen Afrika wird die Négritude denn auch nur noch als eine romantische und nicht ernstzunehmende Episode im politischen Befreiungskampf belächelt und bestenfalls als philosophische Lehre, als das Denken des Philosophen Senghor, behandelt. Dieser von Fanon selbst so bezeichneten „unglückseligen Romantik“ widerfährt jedoch ein Schicksal, das tragisch zu nennen ist:

Jean Paul Sartre schreibt das Vorwort zu der von Senghor 1948 in Paris herausgegebenen Anthologie „Orphée noir“, einer Sammlung schwarzafrikanischer und antil­lanischer Lyrik.

Léopold Sèdar Senghor (Hg.): Orphée noir. Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache. Paris 1948.

Sartre leistet darin eine poetologische Analyse der Négritude. Er interpretiert und analysiert unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkt­en die Gegenstände und Strukturgesetze dieser Dichtung, vergleicht sie mit surrealistischen und expressionis­tischen Ausdrucksformen und stellt sie schließlich als „Negation“ in den geschichtsphilosophischen Rahmen der Hegelschen Dialektik.

Jean Paul Sartre: Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur 1946-1960. Reinbek 1984, darin: Schwarzer Orpheus, S. 52 ff. [= Vorwort zu Senghor 1948 in dt. Übesetzung].

Mit Bezug auf Mallarmé und die Surrealisten glaubt Sartre in der Négritude den Versuch zu erkennen, ebenso wie diese mit der Sprache Schweigen schaffen zu wollen. „Wir begreifen, dass die Sprache ihrem Wesen nach Prosa und die Prosa ihrem Wesen nach Scheitern ist; das Sein ragt vor uns auf wie ein Turm aus Schweigen, und wenn wir es noch einfangen wollen, so kann das nur durch Schweigen geschehen (…) indem der Dichter seine verbale Ohnmacht noch überbietet, indem er die Wörter verrückt werden lässt, lässt er uns jenseits dieses Tohuwabohus, das sich von selbst annulliert, eine enorme schweigende Dichte vermuten; da wir nicht schweigen können, müssen wir mit der Sprache Schweigen schaffen.“

Sartre [wie Anm. 16].

Die Négritude ist für Sartre „weder ein Zustand, noch ein bestimmter Komplex von Lastern und Tugenden, intellektuellen und moralischen Eigenschaften, sondern eine bestimmte affektive Haltung gegenüber der Welt.“

Sartre [wie Anm. 16], S. 65.

Sie sei dabei keine Passivität, sondern eine Art Geduld, die als aktive Nachahmung der Passivität erscheine. Vom Werkzeug wisse der Weiße alles. Aber das Werkzeug zerkratze die Oberfläche der Dinge, ignoriere die Dauer, das Leben. Die Négritude dagegen sei Verständnis durch Sympathie, ein magisches Einfangen der Welt durch Stille und Ruhe. „Der Schwarze richtet sich auf und bleibt reglos stehen wie ein Vogelbeschwörer, und die Dinge lassen sich auf den Ästen dieses falschen Baumes nieder.“

ebd.

Das „Schweigen“ steht dabei als Synonym für all jene Erfahrungsbereiche, die aus dem diakritischen Diskurs des logischen Denkens und der objektivierbaren empirischen Wahrnehmung herausfallen. In dieser Perspektive müsse man die Anstrengungen der „schwarzen Evangelisten“ sehen.

„Césaire hat sich entschlossen, rückwärts nach Hause heimzukehren. Da diese Eurydike sich in Rauch auflösen wird, wenn der schwarze Orpheus sich nach ihr umdreht, wird er mit dem Rücken zur Grotte den Königsweg seiner Seele hinabsteigen (…) mit dem Rücken voran und geschlossenen Augen, um schließlich mit seinen nackten Füßen das schwarze Wasser der Träume und des Verlangens zu berühren und sich davon überschwemmen zu lassen. Dann werden sich Verlangen und Traum grollend wie eine Sturmflut erheben, die Wörter wie Wrackteile tanzen lassen und sie völlig durcheinander, zerschmettert ans Ufer werfen. (…) Man erkennt die alte surrealistische Methode (…). Man muss unter die oberflächliche Kruste der Realität, des gesunden Menschenverstandes, der räsonnierenden Raison tauchen, um den Grund der Seele zu berühren und die uralten Kräfte des Verlangens zu wecken.“

Sartre [wie Anm. 16], S. 59. Dieses Verlangen, das Sartre dem „Schwarzen Orpheus“ zuschreibt, wird von Jaques Lacan als „Begehren“ (désir) ganz ähnlich definiert: „Das Begehren ist eine Beziehung des Seins zum Mangel. Dieser Mangel ist Mangel an Sein/Seinsman­gel/manque d’être im eigentlichen Sinne. Es ist nicht der Mangel an diesem oder jenem, sondern Mangel an Sein, wodurch das Sein existiert. Dieser Mangel ist jenseits all dessen, was ihn vergegenwärtigen kann. (…) Das Begehren, die zentrale Funktion für jede menschliche Erfahrung, ist Begehren nach nichts Benennbarem. Und es ist dieses Begehren, das gleichzeitig an der Quelle jeglicher Lebendigkeit ist. Wäre das Sein nur das, was es ist, dann gäbe es nicht einmal den Platz, um von ihm zu reden.“ (Jaques Lacan: Das Seminar, Buch 2., Kap. XVIII: Das Begehren, das Leben und der Tod. Weinheim/Berlin 1991, S. 281).

Diesen dichterischen Qualitäten der Négritude unterstellt Sartre ein gleichsam revolutionäres Potential: Ohne die Begriffe „Rasse“ und „Klasse“ vermischen zu wollen sei die Négritude als Stufe eines dialektischen Voranschreitens anzusehen: die theoretische und praktische Behauptung von der Überlegenheit der Weißen als These – die Position der Négritude als das antithetische Moment der Negation. Jedoch als ein Moment der Negativität, das sich selbst nicht genüge. Die Schwarzen, die sich seiner bedienten, seien sich dessen auch durchaus bewusst; sie wüssten auch, dass dieses negative Moment die Verwirklichung des Menschlichen in einer rassenlosen Gesellschaft vorbereiten wolle. Also sei die Négritude dazu bestimmt, sich selbst zu vernichten, sie sei Übergang und nicht Endzustand, sie sei Mittel und nicht letzter Zweck.

Ein Text also, der engagiertes Wohlwollen zu vermitteln scheint. Fanon aber reagiert darauf mit Bestürzung und Trauer: „Als ich diese Zeilen las, spürte ich, dass man mir meine letzte Chance raubte. Ich erklärte meinen Freunden: ‚Die Generation der schwarzen Poeten hat soeben einen Schlag erhalten, der kein Pardon kennt.‘ Man hatte einen Freund der farbigen Völker zu Hilfe gerufen, und diesem Freund war nichts Besseres eingefallen, als auf die Relativität ihrer Aktion hinzuweisen. Diesmal hatte dieser geborene Hegelianer vergessen, dass das Bewusstsein das Bedürfnis hat, sich in der Nacht des Absoluten zu vergessen, die einzige Voraussetzung, um zu Selbstbewusstsein zu gelangen. Gegen den Rationalismus erinnerte er an die negative Seite, vergaß jedoch, dass diese Negativität ihren Wert aus einer gleichsam substantiellen Absolutheit gewinnt. Das in die Erfahrung verstrickte Bewusstsein weiß nichts und darf nichts wissen von den Wesenheiten und Bestimmungen seines Seins. Schwarzer Orpheus ist ein Datum in der Intellektualisierung des schwarzen Existierens.

Hervorhebungen im Original.

Und Sartres Fehler bestand auch nicht allein darin, zur Quelle dieser Quelle gehen zu wollen, sondern darin, diese Quelle in gewisser Weise auszutrocknen.“

Fanon [wie Anm. 6], S. 87 [128].

Damit ist m.E. ein Vorgang bezeichnet, der das Grundproblem geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungsethik im Kern trifft: das Austrocknen der Quellen durch Intellektualisierung, („ … denn wenn man die Sache irgendwie analysiert, dann löst sich das alles langsam auf“). Fanon empfindet Sartres Analyse als ein In-Stücke-Schlagen der Négritude, als Zerstörung seiner mühsam gewonnenen Identität, die ihm nun auf einmal unter den Händen zerrinnt und einem Gefühl der Nichtexistenz Platz macht.

„Sicher ist nur, dass in dem Augenblick, da ich mein Sein zu erfassen versuche, Sartre, der der Andere bleibt, mir jede Illusion raubt, indem er mich nennt.“

Fanon [wie Anm. 6], S. 90 [131]

Fanon erhebt Anklage: „Jean Paul Sartre hat in dieser Studie den schwarzen Enthusiasmus zerstört. Dem historischen Werden musste (doch) die Unvorhersehbarkeit gegenübergestellt werden. Ich hatte das Bedürfnis, mich in der Négritude absolut zu verlieren. Vielleicht, dass eines Tages, am Busen dieser unglückseligen Romantik … Jedenfalls hatte ich das dringende Bedürfnis, zu ignorieren. Dieser Kampf, dieser rückwärtige Abstieg sollten einen endgültigen Aspekt annehmen. Nichts Unangenehmeres als der Satz: ‚Du wirst dich verändern, mein Kleiner; auch ich, als ich jung war …, du wirst schon sehen, alles geht vorbei’.“

Fanon [wie Anm. 6], S. 88 [129].

„Ich fühle, dass ich eine Seele habe, die ebenso weit ist wie die Welt, eine Seele so tief wie der tiefste Fluss, meine Brust hat unendliche Ausdehnungskraft. Ich bin Gabe, und man rät mir die Demut des Siechen … Als ich gestern die Augen auf die Welt öffnete, sah ich, wie sich allenthalben der Himmel in Zuckungen wand. Ich wollte aufstehen, aber die ausgeweidete Stille floss zu mir zurück, mit lahmen Flügeln. Nicht verantwortlich, zwischen dem Nichts und der Unendlichkeit, begann ich zu weinen.“

Fanon [wie Anm. 6], S. 91 [134].

Fanon, der im Laufe seiner Bildungsgeschichte aufgestiegen war in die abstrakten Sphären des abendländischen Geistes und unter der Aufklärung mehr gelitten hat als andere, wollte sich wieder hinunter begeben in die schwarzen Wasser des Styx, in die Wasser der Träume und des Verlangens. Das war gemeint mit dem „rückwärtigen Abstieg“. Die Aufklärung jedoch holt ihn dabei in Gestalt des Sartre’schen Vorworts wieder ein. Nur „hebt“ sie ihn nicht „auf“ zu einer neuen Synthese von Verstand und Gefühl, so wie Sartre sich das gedacht hatte, sondern sie bricht ihm die Flügel, sie „weidet die Stille aus“ und lässt ihn wehrlos am Boden liegen. Fanons früher Tod ist ein symbolträchtiges Zeichen.

Aber kann man Sartre irgendetwas vorwerfen? Wohl kaum. Er ist ja doch kein Raubmörder und Totschläger, sondern nur ein sozialkritisch engagierter europäischer Philosoph. Jeder und jede andere hätte diese Dichtung so oder so ähnlich interpretiert, und vielleicht nicht einmal so brillant. – Und dennoch liegt hier eine Art „Straftatbestand“ vor, die nach Sühne für den armen Frantz Fanon verlangt. Dessen Négritude ergeht es ebenso wie der Gattin des Orpheus: Eurydike löst sich in Rauch auf und verschwindet für immer im Reich der Toten, wenn man sie anschaut; „analysieren“ heißt ja doch offenbar: genau und direkt hinschauen, benennen, festschreiben. Und das vertragen solche zarten Gebilde nicht gut; sie gehen daran zugrunde oder verlieren zumindest ihre Bedeutung.

In der „Psychoanalyse“ neurotischer Symptome ist dieser Effekt ja erwünscht, hier ist die „Trockenlegung der Zuyder-See“ das erklärte Ziel, doch wenn man symbolische Bedeutungen bewahren will, so besteht die einzige Möglichkeit ihnen gerecht zu werden darin, sie wie Orpheus zu „besingen“ in allen möglichen Formen der Kunst. Wissenschaftliche Analyse, sprich „Aufklärung“, entfaltet in diesem Fall ihr zerstörerisches Potential, ihre entzaubernde Wirkung.

Doch wäre der reumütige Verzicht auf wissenschaftliche Erkenntnis eine Alternative? Martin Buber berichtet die Geschichte von Rabbi Bunam aus Przysucha:

„Von Rabbi Bunam von Przysucha, einem der letzten großen Lehrer des Chassidismus, wird erzählt, dass er einmal zu seinen Schülern sprach: ‚Ich habe ein Buch verfassen wollen, das sollte Adam heißen, und es sollte darin stehen der ganze Mensch. Dann aber habe ich mich besonnen, dieses Buch nicht zu schreiben.‘ “

Buber sagt, es spreche sich darin die ganze Geschichte des menschlichen Nachdenkens über den Menschen aus. Der Mensch scheue sich, gerade sich selbst als ein Ganzes seinem Sein und Sinn nach zu behandeln. Er nehme zuweilen Anlauf dazu, aber bald überwältige und erschöpfe ihn die Problematik der Beschäftigung mit seinem eigenen Wesen, so dass er sich in einer verschwiegenen Resignation zurückziehe – sei es, um alle anderen Dinge zwischen Himmel und Erde mit Ausnahme des Menschen zu bedenken, sei es, um den Menschen in Bezirke aufzuteilen, mit denen man sich einzeln, in einer weniger problematischen, weniger beanspruchenden und weniger verbindlichen Weise zu befassen vermag.

Martin Buber (1943): Das Problem des Menschen. In: Werke Bd. 1, München und Heidelberg 1962, S. 307.

Man könnte darüber hinaus vermuten, dass der überwältigenden Erschöpfung, die zu jener verschwiegenen Resignation führt, in affektiver Hinsicht ein Schuldproblem zugrunde liegt. In dieser Geschichte ist nämlich auch die entscheidende Einsicht enthalten, dass es schwer ist, Aufklärung ohne seelische Beschädigung zu betreiben, denn sie erzeugt analytisch gesehen – diese These sei hier vertreten – sie erzeugt Schuld. Den Christen dieser Welt steht in dieser Sache ein „Erlöser“ zur Verfügung, der bereits stellvertretend für die unvermeidbar aufgeladene und noch aufzuladende Schuld der Menschen gestorben ist. Aber Rabbi Bunam ist kein Christ. Abgesehen davon, dass sein Vorhaben nicht einlösbar wäre, verzichtet er m. E. aus ethischen Gründen, aus einer Art Respekt vor der Unmittelbarkeit des Lebendigen auf die Niederschrift seines Buches.

Keine Aufklärung geschieht ja ohne den Effekt, traditionelle Standpunkte zu zerstören und konventionelle Moral aufzulösen. Für Sloterdijk geht das psychologisch mit „Ich-Zerstreuung“ einher, literarisch und philosophisch mit dem Verfall der Kritik,

Vgl. Sloterdijk [wie Anm. 1], S. 18.

wobei die letzten Bastionen der Kritik für Sloterdijk heute die Weltfremdheit und die Dummheit sind. Was Fanon in diesem Zusammenhang angeht, so ist er zwar weder weltfremd noch dumm, aber er besitzt dasselbe kulturkritische Potential, das man in Weltfremdheit und Dummheit (im Sinne von ungebildeter Naivität) enthalten sehen kann. Fanon wird durch seine Hautfarbe gezwungen, sich zu den Werten seiner afrikanischen Väter zu bekennen, jener vorsprachlichen Sensibilität, die von den Weißen lange Zeit in ähnlicher Weise verachtet wurde wie weltfremde Unwissenheit.

Die Négritude könnte so gesehen für uns Europäer durchaus eine annehmbare Position der Kulturkritik darstellen, wenn es dabei nicht entscheidende Hindernisse gäbe. Denn wenn auch in den Industriegesellschaften mittlerweile nicht nur eine hohe Bereitschaft, sondern geradezu eine Sehnsucht danach zu beobachten ist, sich mit den sensiblen Werten der Vorsprachlichkeit zu identifizieren, so scheint doch das, was von Fanon so bitter beklagt wird, nämlich die Unfähigkeit der Weißen zu seelischer Entgrenzung, für ein abendländisch sozialisiertes Individuum ein Erfordernis psychischer Gesundheit zu sein. Wir brauchen unsere emotionale und intellektuelle Beschränktheit, um bei Trost zu bleiben. Wir müssen in logischen Systemen auf der Basis von dichotomischen Gegensätzen denken, weil die Alternative ein psychotischer Zusammenbruch der Persönlichkeitsstruktur wäre. Möglich sind allenfalls temporäre Ausflüge in den Traum, den Rausch oder den Wahn.

In tiefenpsychologisch orientierter Entwicklungspsychologie wird die Unterscheidung zweier grundlegend verschiedener psychischer Zustände getroffen, die in Anlehnung an Freud „Primär- und Sekundärprozess“ oder „-vorgang“ genannt werden. Letzterer bezeichnet das logische Denken und die diakritische Wahrnehmung, also die Determinanten des normalen, vernunftbegabten Bewusstseins. Der Primärvorgang dagegen stellt eine „Denkform“ dar, die dem Traum wie überhaupt dem Unbewussten angehört, die in psychotischen Zuständen eine Rolle spielt und die in der Psychoanalyse als die Bewusstseinsform sehr früher Entwicklungsstufen des Kindes angenommen wird, auf die ein Erwachsener im Zustand der psychotischen Entgrenzung regrediere. Subjekt und Objekt sind in der primärprozessualen Wahrnehmung vertauschbar und können für einander eintreten, innen und außen sind nicht klar unterschieden, widersprüchliche Denkinhalte kann es hier nicht geben, weil ein kausallogisch ordnender Zeitbegriff nicht existiert: eine Aussage kann ebenso gültig sein wie ihr genaues Gegenteil. Das primärprozesshafte Denken ist also nicht an Logik gebunden, sondern besteht aus Bildern, die sich nicht an raum-zeitliche Kausalbeziehungen halten müssen, weil die in ihnen ablaufenden Vorgänge zeitlos sind und überhaupt keine Beziehung zur Zeit haben. Auch macht der Primärvorgang keinen Unterschied zwischen Aggression und Libido – in der Terminologie der psychoanalytischen Triebtheorie ausgedrückt: Selbsterhaltungstrieb und Sexualtrieb sind noch ungeschieden. Der Entwicklungszeitraum, in dem der Primärprozess vorherrscht, liegt „jenseits von gut und böse“. Er beinhaltet unter der Prämisse von Zeitlosigkeit die Identität und Vertauschbarkeit von Subjekt und Objekt, von Liebe und Hass, von Körper und Seele usw. Erst die Einführung des psychischen Prinzips des „Dritten“, des „tertium comparationis“, bricht die symbiotische Fusion zwischen Subjekt und Objekt auf und führt die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich ein sowie alle weiteren psychischen Dichotomien der Wahrnehmung. Das logische Denken ist der klassische Ausdruck sekundärprozessualen Bewusstseins.

Wenn wir also als „vernünftig“ gelten wollen, so müssen wir klar unterscheiden zwischen innen und außen, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Denken und Fühlen, männlich und weiblich, Wachen und Traum, Realität und Phantasie etc. Diese Unterscheidungen können von Europäern bei klarem Verstand nicht aufgehoben werden. Ihre Aufhebung ist nur graduell und in Ausnahmefällen möglich, wie schon gesagt: im Traum, im Rausch, in der körperlichen Liebe (wie immer behauptet wird) – oder nur um den Preis des Wahnsinns zu haben.

Die Négritude ist nun aber eine Art von Poesie, die die Auflösung der Dichotomien mit Leidenschaft betreibt bzw. besingt, und zwar aus einem besonderen Grund: Es ist vielleicht eine trivial verkürzte, aber dennoch einige Wahrheit enthaltende Behauptung, dass die bürgerliche Gesellschaft auf dem Boden von Imperialismus und Kolonialismus gewachsen ist und dass die geistesgeschichtlichen Bedingungen dafür die zweiwertige aristotelische Logik und die cartesianische Unterscheidung von Innen- und Außenwelt (cogitatio und extensio) waren. Dazu kommt als weitere Bedingung das Christentum, das die ideologische Voraussetzung für ungehemmte wissenschaftliche Neugier und technologische Entwicklung bietet, indem es die Schuldproblematik via Projektion auf einen prototypischen Stellvertreter des Menschen entkräftet („Jesus ist für unsere Sünden gestorben“) und die Sühne durch das „Jüngste Gericht“ auf den „Jüngsten Tag“ verschiebt, während in traditionalen Gesellschaften jeder Eingriff in den Naturhaushalt mit zahlreichen rituellen Beschränkungen belegt ist und durch kultische Opferhandlungen unmittelbar „gesühnt“ wird. Die geistesgeschichtlichen und religiösen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft jedenfalls werden in der Négritude implizit angegriffen und kritisiert, darin liegt ihr Protest gegen die Kultur der Weißen.

Man muss nur aus dem Fenster schauen und sich fragen, wo der Himmel aufhört, dann hat man das Problem vor Augen, das der hier diskutierten Frage zugrunde liegt. Die materielle Wirklichkeit, deren räumliche und zeitliche Begrenztheit der unmittelbaren Umgebung noch so beruhigend sicher abzumerken ist, – die Minuten, Stunden und Tage sind zählbar, der Raum ist in Quadrat- und Kubikmetern bemessen – gerät bei längerem Nachdenken über sie ins Schwimmen und weist letzten Endes die beunruhigende Eigenschaft auf, unendlich zu sein. Und nicht nur die Unendlichkeit von Raum und Zeit wird unheimlich, sondern der Raum als solcher wird durch die Unmöglichkeit, weder seine Endlichkeit noch Unendlichkeit denken zu können, überhaupt unheimlich und evoziert den „horror vacui“.

Ein Bach-Choral aus dem Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach mag dies hinsichtlich der Unendlichkeit der Zeit  illustrieren:

O Ewigkeit, du Donnerwort, O Schwert, das durch die Seele bohrt, O Anfang sonder Ende. O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit Ich weiß vor großer Traurigkeit Nicht, wo ich mich hinwende. Mein ganz erschrock’nes Herze bebt, Dass mir die Zung’ am Gaumen klebt. (BWV 513)

„Ich selbst habe dies mit etwa vierzehn Jahren in einer Weise erlebt, die mein ganzes Leben tief beeinflusst hat“, schreibt Martin Buber. „Es war damals eine mir unbegreifliche Nötigung über mich gekommen: ich musste immer wieder versuchen, mir den Rand des Raumes oder seine Randlosigkeit, eine Zeit mit Anfang und Ende oder eine Zeit ohne Anfang und Ende vorzustellen, und beides war ebenso unmöglich, ebenso hoffnungslos, und doch schien nur die Wahl zwischen der einen und der anderen Absurdität offen. Unter einem unwiderstehlichen Zwang taumelte ich von der einen zur anderen, zuweilen von der Gefahr des Wahnsinnigwerdens in solcher Nähe bedroht, dass ich mich ernstlich mit dem Gedanken trug, ihr durch einen rechtzeitigen Selbstmord zu entweichen. Die Erlösung brachte dem Fünfzehnjährigen ein Buch, Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, das ich zu lesen wagte, obgleich es mir in seinem ersten Satze sagte, dass es nicht zum Gebrauch für Lehrlinge, sondern für künftige Lehrer bestimmt sei. Dieses Buch erklärte mir, Raum und Zeit seien nur die Formen, in denen meine menschliche Anschauung dessen, was ist, sich notwendig vollzieht, sie hafteten also nicht dem Innern der Welt an, sondern der Beschaffenheit meiner Sinne. Und weiter lehrte es, es sei für alle meine Begriffe ebenso unmöglich zu sagen, die Welt sei dem Raum und der Zeit nach unendlich, als sie sei endlich. ‚Denn keins von beiden kann in der Erfahrung enthalten sein‘, und keins von beiden kann in der Welt selber liegen, da diese uns eben nur als Erscheinung gegeben ist, ’deren Dasein und Verknüpfung nur in der Erfahrung stattfindet‘.“

Buber, op. cit., S. 329.

Die angstberuhigende Wirkung dieser Erklärung liegt in der Rücknahme einer Projektion. Fehlgehende Welterkenntnis verwandelt sich in Selbsterkenntnis; doch abgesehen davon ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass sich das Problem der Unendlichkeit einem pubertierenden Jugendlichen stellt, denn in diesem Lebensabschnitt werden junge Menschen in allen Kulturen aus Anlass ihrer neu gewonnenen Fortpflanzungsfähigkeit in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen. Sie vollziehen damit den Übergang vom kindlichen Individuum zu einem Mitglied der „Gesellschaft“ und werden damit zu „Gattungswesen“. Als solche sind sie zwar mit einem selbstreflexiven Bewusstsein ausgestattet, finden sich aber plötzlich wieder in eine neue Dyade versetzt, welche jene beunruhigenden Strukturmerkmale der primärprozessualen Unbegrenztheit aufweist, die die Psychoanalyse in der psychologischen Gestalt der frühen Mutter-Kind-Beziehung erkannt zu haben glaubt. Das Verhältnis der „Gattung Mensch“ zur „Natur“ ist nämlich ein primärprozesshaft fusionäres. Menschen leben in der Welt wie ein Embryo im Mutterleib. Über die Grenzen ihres „Objekts“, von dem sie ein Teil sind, können sie nicht hinaus sehen, ja, sich nicht einmal eine Vorstellung weder von der Begrenztheit noch der Unbegrenztheit ihres Lebensraumes machen.

Das, was einen einzelnen Menschen in den Wahnsinn triebe oder ihn zumindest in alptraumähnliche Zustände versetzte, das muss die Menschheit als Gattung tagtäglich aushalten, denn das tertium comparationis entzieht sich auf Gattungsebene der sinnlichen Wahrnehmung. Die Hilfsmittel, die dieses Problem lösen helfen, sind „künstliche“, wiewohl unabdingbare Setzungen des objektiven Dritten: zum einen religiöse Welterklärungsmuster, zum anderen die allgemeinverbindliche Weltdeutung auf der Basis wissenschaftlicher Rationalität, die mit ihrem mathematisch begründeten Anspruch auf Objektivität nicht nur materielle Sicherheit in Überlebensfragen zu bieten verspricht, sondern vordergründig auch psychologische Beruhigung liefert.

Diese „Künstlichkeit“ der rationalen wissenschaftlichen Basis ist es, die Nietzsche meint, wenn er von „diesem nunmehr festen und granitenen Grunde von Unwissen“ spricht, auf dem erst sich bisher die Wissenschaft erheben durfte, die uns „in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurechtgedichteten, zurechtgefälschten Welt festhalten will“, weil sie „das Leben liebt.“

Vgl. Anm. 3

Die praktische Vernunft steht ja nun in der Tat im Dienst ehrbarer pragmatischer Interessen, und ein Verzicht auf diesen granitenen Grund von Unwissenheit wäre nicht nur psychologisch riskant – und dennoch wird die „Wahrheitsliebe“ dabei mit Füßen getreten. Einsichtnahmen in die „andere Seite der Wirklichkeit“ bleiben nämlich subjektiv und sind nicht empirisch verifizierbar. Sie sind von sich her nur im primärprozessualen Vollzug erschließbar und behalten den Charakter von nicht-übertragbarem selbst-gebundenem Primärwissen. Allenfalls in Form von Außenansichten, von Metaphern oder Bildern können sie dargestellt werden, „… eben dies rührt an den gnostischen Wissenstypus.“

Vgl. Peter Sloterdijk; Thomas Macho (Hg.): Weltrevolution der Seele. 2 Bde., München 1991, S. 48.

Derrida fragt, wie man von etwas sprechen könne, das nur im Schweigen präsent ist, und das durch Benennung seine Bedeutung verliert, um derentwillen man doch eigentlich von ihm sprechen wollte. „Comment ne pas parler?“

Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Wien 1989.

Das Transzendente erfahrbar machen, ohne von ihm zu sprechen, das ist unter anderem eine Aufgabe der Kunst, und unter diesem Aspekt stellt sich die Auseinandersetzung zwischen Fanon und Sartre als ein ungleicher Zweikampf dar zwischen Orpheus, dem Künstler, der nur besingt, und Ödipus, dem Rätsellöser und Helden, der „eindringt“ in die Materie (Mater = Mutter) und sich dabei unwissentlich schuldig macht.

Der Ödipusmythos wurde bekanntlich von Freud zum Vergleich mit einem Strukturmoment in der bürgerlichen Sozialisation, das er für zentral hielt, herangezogen. „Ödipuskomplex“ heißt seither das Begehren drei- bis fünfjähriger Knaben, die Mutter zu heiraten und den Vater zu beseitigen. Man könnte diese Deutung des antiken Mythos aber auch auf die Ebene des Kulturprozesses übertragen und in der Geschichte des Ödipus Rex ein Gleichnis für den abendländischen Weg der Naturbeherrschung sehen. Einem tiefenhermeneutischen Verständnis, das den bornierten akademischen Blick zu transzendieren vermag, stellt sich abendländisches Produzieren – das Eindringen in die Geheimnisse der Natur – nämlich als ein täglicher „Inzest“ mit der Mutter Erde dar – als ein fataler und nicht zu vermeidender Frevel, der ein unbewusstes Schuldgefühl nach sich zieht, wobei es dem abendländischen Individuum offenbar auch ein fundamentales Bedürfnis ist, diesen Frevel zu begehen.

Wer die Welt auf das Denken zu bauen gesucht hatte, muss mittlerweile immer häufiger erkennen, dass das Denken – für sich genommen – versagt hat und den Irrationalismen des Affekts ohnmächtig gegenübersteht. Dabei sollte das Licht der Aufklärung doch ursprünglich eine Lichtquelle sein, die als lumen internum oder lumen naturale innerhalb der Person leuchtet und als mystischer Ausdruck für den autonomen Verstand nicht nur den Intellekt, sondern auch das Gefühl und den ganzen Körper erfasst. Diese Art von Helligkeit des Verstandes, die nicht nur einen Gegenstand, sondern auch den Betrachtenden selbst zu beleuchten hätte, ist allerdings nicht zu vereinbaren mit dem herrschenden europäischen Wissenschaftsbegriff, bei dem die Trennung von Forscher und Forschungsgegenstand als Objektivität garantierende „Sachlichkeit“ ja gerade gefordert wird.

Vgl. Klaus Heinrich: Arbeiten mit Ödipus. Basel/Ffm 1983, S. 51.

Aus diesem Grund gehört die Rehabilitation der „anderen Seite der Wirklichkeit“, der „Nachtseite der Vernunft“ etc. zu den Desiderata der Gegenwartsphilosophie. Auch die Négritude klagt etwas ein, das man die Aufhebung der „Urverdrängung“ (Freud) nennen könnte, Aufhebung der „Seinsvergessenheit“, wie es bei Heidegger heißt, oder der „Uridiotie“, wie Sloterdijk es nennt. Damit wäre die Einsichtnahme in die affektive Bedeutung des Forschens überhaupt verbunden. Doch das überfordert die Europäer offenbar. Die Forderung nach Bewusstmachung des Unbewussten erweist sich als Forderung nach Annahme von eigentlich Unannehmbarem.

Der Grund dafür mag jedoch nicht nur struktureller Natur sein, wie oben geschildert, sondern er könnte auch darin liegen, dass ein „Unrecht“ die Voraussetzung für die Höherentwicklung der abendländischen Kultur darstellt und wir es hier in psychologischer Hinsicht mit einem Schuldproblem zu tun hätten. Die „Arbeit“ wäre dann jedenfalls die Ursache der „Erbsünde“, die der Bettelmönch zu vermeiden sucht, die aber fast alle anderen Mitglieder der Gesellschaft unvermeidlich begehen müssen. Im christlichen Vaterunser steht nach der Bitte um Bedürfnisbefriedigung in unmittelbarer Folge die Bitte um Vergebung: „Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld …“ – Das Sprichwort sagt: „Du bist der Natur einen Tod schuldig“, der alte Harfner in Goethes Wilhelm Meister bringt eine ergreifende Anklage gegen die himmlischen Mächte vor:

Ihr führt ins Leben uns hinein,

Ihr lasst den Armen schuldig werden,

Dann überlasst Ihr ihn der Pein;

Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Und Nietzsche bringt diesen Gedanken in der „Geburt der Tragödie“ zum Ausdruck: „Es mag nicht logisch sein, klingt aber jedenfalls recht menschlich, (…) alles Werden wie eine strafwürdige Emanzipation vom ewigen Sein anzusehen, als ein Unrecht, das mit dem Untergang zu büßen ist.“

Der „Straftatbestand“ des geistigen Eindringens in die Geheimnisse des Lebens spiegelt sich offenbar sehr wohl als Schuldbewusstsein in den symbolischen Formen der abendländischen Kultur. – Menschen zerstören für ihr Überleben ja zwangsläufig täglich einen Teil ihres „primären Objekts“, und je weiter die imperiale Beherrschung fortschreitet, desto größer werden die damit verbundenen Schuldgefühle. Ein kulturell gebilligtes Grundmuster der Schuldbewältigung ist in diesem Zusammenhang das „Opfer“: Die Tötung eines als Schuldträger ausgewiesenen Stellvertreters des Menschen (wie in der Kreuzigung Jesu, aber auch in zahlreichen anderen volkskundlich und ethnologisch belegbaren Riten erkennbar). Der zugrunde liegende Schuldkonflikt dürfte universal sein. Kulturell verschieden sind nur die Methoden der Schuldbewältigung und Aggressionsabfuhr.

Einem kulturphilosophischen Blick in universalhistorischer Perspektive könnte sich so die Gattung Mensch in Anlehnung an den Marx’schen Begriff des ideellen Gesamtkapitalisten als „ideeller Gesamtsäugling“ an der Brust der Mutter Natur darstellen, der vor der Alternative steht „friss oder stirb“. Wenn wir dabei die Existenzweise des Säuglings als eine primärprozessuale ansehen, die „jenseits von gut und böse“ liegt, so kann es dabei mangels Anwesenheit eines die richterliche Entscheidung fällenden Dritten natürlich gar keine verbindliche Moral und im Grunde auch keine Schuldgefühle geben. Die „Mutter Erde“ ist keine moralische Instanz, da Menschen im Verhältnis zu ihr in einer dyadischen, primärprozesshaften Beziehung leben, die den einzelnen Individuen aus strukturellen Gründen unbewusst bleibt. Es fehlt ja hier das Prinzip des Dritten, bzw. ist das Dritte immer nur ein Gedachtes oder Geglaubtes, über dessen verbindliche Geltung in jeder Generation neu verhandelt werden muss. Das Dritte ist also ein Symbol im semiotischen Sinn. Die etymologische Herkunft des Begriffs „Symbol“ weist auf seinen Kompromisscharakter hin, denn „symballein“ heißt „zusammenwerfen“ – im Gegensatz zu „diaballein“, was (mit diabolischer, diakritischer Konnotation) „durcheinanderwürfeln, zertrennen“ bedeutet.

In der Tat zeichnen sich die symbolischen Formen in menschlichen Gesellschaften durch ihren Kompromisscharakter aus. Es sind projektive Hineinwürfe aus der Welt der endlich verfassten Vernunft in die Welt der Grenzenlosigkeit – und Kulturwissenschaft wäre in diesem Zusammenhang Symbolwissenschaft par excellence. Nehmen wir als Beispiel für eine symbolische Form bzw. einen Ritus den Sonntag oder Sabbat. Er ist ein Kompromiss aus Arbeit und Nichtarbeit im Sinne einer „Isolierung“ des Konflikts, also eines Schuld- und Angstabwehrvorgangs, wie ihn auch die Freudsche Neurosenlehre beschreibt. Indem ein Tag in der Woche bestimmt wird, an dem nicht gearbeitet werden darf, an dem man statt dessen in die Kirche geht und um Vergebung der Sünden bittet, leistet man partielle Abbitte für die unter der Woche durch Arbeit aufgeladene Schuld, um in der darauf folgenden Woche um so entlasteter weiterarbeiten zu können. Die „Heiligkeit“ des christlichen Sonntags war der abendländischen Produktionsweise bisher funktional anpasst wie ein zwangsneurotisches Symptom, das den Gefühlshaushalt vordergründig regulieren hilft.

Geisteswissenschaftliche Aufklärung zieht wachsende „Ent-täuschungen“ nach sich, nicht nur im positiven, sondern auch im negativen Sinn. Konventionelle Moralen werden aufgelöst und machen postmoderner Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit Platz. Angesichts dieser zwar logisch zwingenden – denn intellektuelle Aufrichtigkeit erlaubt nichts anderes – und dennoch in der Wirkung zynischen Auflösung der Traditionen, ist es Aufgabe der Geisteswissenschaften, die Meta-Reflexion dieses als „Dialektik der Aufklärung“ bezeichneten Vorgangs zu sichern. Aufklärung im Sinne von Dekonstruktion ist ein unendlicher Regress, der sich schließlich selbst dekonstruiert. Man wünschte sich hier einen Paradigmensprung – und das Sprungbrett dazu könnte vielleicht tatsächlich die Annahme affektiver oder triebhafter Determinanten des Denkens sein, die letzteres ja nicht einschränken muss, sondern durchaus befruchten kann.

Vgl. Rolf-Peter Warsitz: Die Psychoanalyse zwischen den Methodologien der Wissenschaften. In: Psyche 2/1997, S. 101-139, hier 139.

Allerdings führt dieser Sprung nicht in die akademische Öffentlichkeit, sondern in die Privatheit der eigenen vier Wände. Nur hier kann Einsicht in den bislang unreflektierten Zusammenhang von geisteswissenschaftlicher Entwicklung und Zerstörung genommen werden, nur hier ist es erlaubt, die notwendige philosophische Konsequenz aus dieser Einsicht zu ziehen, den Forschungsgedanken zu negieren und nichts mehr wissen zu wollen um der Wahrheit willen – vielleicht nicht gänzlich ohne Methode, sondern etwa in Anlehnung an die cusanische „docta ignorantia“,

Nikolaus von Kues: De docta ignorantia (1440) dt.: Von der gelehrten Unwissenheit. Hamburg 1979.

in der gerade mit Hilfe der Mathematik die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis begründet wird. – Nichts mehr wissen wollen um der Wahrheit willen –, wobei Wahrheit hier aporetisch verstanden werden soll: Der Wahrheit zuliebe wird auf den Anspruch auf Wahrheit verzichtet. Dieser Gedanke in seiner ganzen Verletzbarkeit und mit seiner ganzen subversiven Sprengkraft ist in den Arbeitsalltag der akademischen Disziplinen natürlich nicht integrierbar, kann aber doch als Anregung im Sinne einer paradoxen Intervention gegen den sich ansonsten ohnehin vollziehenden Prozess der Zerstörung verstanden werden. Negation des Forschungsgedankens also als eine zwar romantische, aber doch genuin wissenschaftliche Haltung im Sinne einer notwendigen Stufe der Negation in einem Prozess „dialektischen Voranschreitens“. Damit wäre der nicht nur von feministischer Seite eingeklagte „andere“ Umgang mit den Forschungsgegenständen angedeutet, den wahrscheinlich auch ein Frantz Fanon gutheißen würde.

„Des Denkens Faden ist zerrissen, mir ekelt lange vor allem Wissen“, sagt Goethes Faust und spricht damit aus, was heute vielerorts in resignierter Einsamkeit gedacht wird. Die östlichen Religionen und die Esoterik greifen dieses Bedürfnis nach Nichtwissen derzeit auf. Im Interesse einer menschenwürdigen Aufklärung jedoch läge es, die Gründe zu analysieren, warum es überhaupt dazu kam und wozu es uns nützt, wenn nötig mit Hilfe eines mythologischen Bildes. Möglicherweise stellt der schon bemühte Ödipusmythos ein adäquates Gleichnis für den gegenwärtigen Zustand der Aufklärung dar: Im Moment der traumatischen Einsicht in die eigene Schuld blendet sich Ödipus, der doch die Aufklärung seines eigenen Schicksals selbst unerbittlich vorangetrieben hat. Und diese Blindheit erweist sich anschließend als Initiation in ein besseres Sehen, wie im Übrigen in allen Initiationsriten und Mysterien, in denen der Myste alle Leibeshöhlen zu schließen hat. Am Ende sieht er mehr, als er mit Leibesaugen je vorher hätte sehen können.

In dieser Selbstblendung des abendländischen Rätsellösers und Helden, sprich der Negation des Forschungsgedankens, läge die Sühne für das ganze bisher unbewusst begangene Unrecht, sie wäre die geforderte Abstinenz, die Einsicht gewährt in die eigenen Handlungsmotive, und zugleich eine klassisch humanistische Haltung in radikalisierter Form, in der eine wiederum altbekannte moralische Funktion der Geisteswissenschaften läge, nämlich die Selbstreflexion des Menschen zu sichern und Anwaltschaft zu übernehmen nicht nur für die Schwachen unter den Sprechenden, sondern auch für jene, deren Stimme sich nur im Schweigen erhebt.