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Verstehen und Verurteilen. Ein richterliches Dilemma in kulturwissenschaftlicher Perspektive

 

Zusammenfassung: Im Strafprozess stellt sich der Dualismus von Anklage und Verteidigung als richterliche Aufgabe dar, den Angeklagten sowohl psychologisch zu verstehen als auch rechtlich zu verurteilen. In diesem Verhältnis spiegelt sich die grundsätzliche Reziprozität von Individuum und Gesellschaft, die in vielen Bereichen des Lebens zu Tage tritt, die in der disziplinären Teilung von Psychologie und Soziologie erscheint und sich in wissenschaftstheoretischer Hinsicht auch als Verhältnis von hermeneutischer und empirischer Methode zeigt.

Summary: Understanding and condemning. A judicial dilemma in view of cultural anthropology. In criminal proceedings the dualism of charge and defence appears as a judicial task both to understand the accused (psychology) and to condemn him (law). In this the basic reciprocity of the individual and society is reflected. It appears in the academic division of psychology and sociology and in view of the theory of science can also be seen in the proportion of hermeneutical and empirical method.

I.

Ein Richter muss einen Straftäter für die begangene Straftat verurteilen, das liegt im Interesse des geschädigten Opfers und das verlangen die verletzten Rechtsnormen. Zugleich aber soll er versuchen, den Täter in seinen Motiven zu verstehen, was tendenziell die Möglichkeit beinhaltet, ihm zu verzeihen. Die Redensart „Alles verstehen heißt alles verzeihen“ hat im Gerichtssaal jedoch keine Gültigkeit, denn selbst wenn man das Tatmotiv eines Angeklagten psychologisch so gut verstehen kann, dass man bereit wäre, ihm zu verzeihen, so ist man als Richter oder Schöffe doch gezwungen, den Täter zu verurteilen, weil er gegen herrschendes Gesetz verstoßen hat. Verurteilen und Verstehen erscheinen so als zwei unterschiedliche Aspekte des gerichtlichen Verfahrens und entsprechen ungefähr dem Dualismus von Anklage und Verteidigung. Die Anklage vertritt die Interessen der Gesellschaft und ist im Rahmen eines strafrechtlichen Prozesses Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Die Arbeit der Verteidigung liegt dagegen eher im Interesse des straffällig gewordenen Individuums. Richterinnen und Richter, die ein gerechtes Urteil fällen wollen, müssen beide Seiten berücksichtigen.

Es stellt sich nun aber die Frage, ob es im Rahmen des geltenden Strafrechts überhaupt möglich ist, einen Delinquenten ausreichend und angemessen zu verstehen. „Es dürfte nicht oft in der Geschichte Berufsstände gegeben haben, deren Aufgabe es ist, verfügend und urteilend mit Menschen umzugehen und die so weit von einer realen Kenntnis der Menschen, mit denen sie umzugehen hatten, entfernt waren, wie die Strafjuristen“

Tilmann MOSER (1971) (Hg.): Psychoanalyse und Justiz. Frankfurt/M. Nachwort des Herausgebers, S. 414.

urteilt Tilmann MOSER, der sich mit diesem Vorwurf in Übereinstimmung mit einer ganzen Reihe anderer justizkritischer Stimmen befindet, welche die Kluft zwischen humanistischem Anspruch und strafrechtlicher Praxis beklagen.

Das Unbehagen, das sich hierin artikuliert, scheint Anstoß zu nehmen an der Tatsache, dass der Beurteilung der Schuldfähigkeit eine bestimmte philosophische Annahme zugrunde liegt, nämlich die der Willensfreiheit. Das Strafrecht hat einen bewusstseinspsychologischen Kern, der auf dem Konzept der Willensfreiheit beruht, wonach das menschliche Verhalten im Allgemeinen dem bewussten und freien Willen unterworfen sei. Verhaltensmotive können so „kausal“ erklärt und entsprechend beurteilt werden, wohingegen eine tiefenpsychologische Betrachtung des Begriffs Willensfreiheit zu dem Schluss kommt, dass menschliche Handlungen nicht nur durch bewusste, sondern ebenso und möglicherweise überwiegend durch unbewusste Motive determiniert sind. Franz ALEXANDER und Hugo STAUB – der erste Arzt von Beruf, der zweite Jurist – haben bereits 1928 versucht, psychologisches Wissen kriminologisch zu verwerten. „Was man üblicherweise als ‚freien Willen’ bezeichnet, ist gleichbedeutend mit den bewussten Motiven des Ichs. Dass diese bewussten Motive selbst komplizierte Abwandlungsprodukte unbewusster, triebhafter Motive sind, die wahrscheinlich verschiedene seelische Zensurstellen passiert und erst nach dieser Passage ihre bewusstseinsfähige Form erhalten haben, ist die nächste wichtige Tatsache, die das Problem der Willensfreiheit beleuchten mag“.

Franz ALEXANDER und Hugo STAUB (1929): Der Verbrecher und seine Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen. In: MOSER l.c., S. 257.

Unbewusste Motive“ gibt es jedoch im Strafrecht nicht – und darf es wohl auch nicht geben, denn für eine Absicht, die dem Täter selbst nicht bewusst ist, kann man ihn nicht gut verantwortlich machen. Man kann zwar die Tat moralisch verurteilen, nicht aber den Täter, wenn letzterer zwar geständig ist, aber auf die Frage „Warum haben Sie das getan?“ immer nur „Ich weiß es nicht“ antwortet. Man nimmt daher in entsprechenden Fällen lieber eine „Trübung“ des Bewusstseins an, berücksichtigt den heftigen „Affekt“ oder attestiert einen Hirnschaden, was die Schuldfähigkeit des Delinquenten mindert und zugleich die Aufrechterhaltung des Postulats der Willensfreiheit ermöglicht.

Konzediert man allerdings, dass der Wille des Menschen doch nicht ganz so frei ist, so erweist es sich als notwendig, bei der Be- und Verurteilung eines Täters tiefenhermeneutisch vorzugehen, was heißen soll, dass ein Tatmotiv nach Möglichkeit nicht nur oberflächlich erklärt, sondern in seiner Genese zurückverfolgt wird, so dass es nachvollziehbar erscheint und sich sogar als sinnvoll darstellt.

Nach Alfred Schütz ist nur dann etwas verstanden worden, wenn es auch sinnvoll erscheint. Vgl. Alfred SCHÜTZ (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Wien. S. 117f. (…“denn alles Verstehen ist auf ein Sinnhaftes ausgerichtet, und nur ein Verstandenes ist sinnvoll.“)

Aus tiefenpsychologischer Sicht beruht kriminelles Verhalten auf gestörten seelischen Strukturen, deren Entstehungsgeschichte eine Leidensgeschichte ist. Der Spannungsbogen so manchen Kriminalfilms lebt ja von dem Bedürfnis des Zuschauers, den Täter in seinen Motiven nachvollziehbar zu verstehen. Diese Art des Verstehens wird zwar auch juristisch angestrebt, kann jedoch im strafrechtlichen Alltag nur in den wenigsten Fällen gelingen.

Beispielhaft für einen kriminalpsychologisch schwierigen Fall mag die Geschichte der Frau Lefebvre sein, einer reichen, über 60 Jahre alten Bürgerin aus Nordfrankreich, die 1925 auf einer Spazierfahrt in ihrem Auto, das von ihrem Sohn gelenkt wurde, ihre im sechsten Monat schwangere Schwiegertochter erschoss. Sie wurde zum Tode verurteilt und später zu lebenslanger Haftstrafe begnadigt. Bis dahin hatte sie unter psychischen und physischen Störungen gelitten, unter hypochondrischen Ängsten, Migräne und Depressionen. Im Zuchthaus dagegen fühlte sie sich wohl und entspannt. Sie nahm den brieflichen Kontakt zu ihrem geschiedenen Mann wieder auf, führte ein religiöses Leben und befand sich in ausgeglichener, ja geradezu heiterer Gemütsverfassung. Schuldgefühle hatte sie keine, obwohl die Gutachter sie für vollkommen schuldfähig und psychisch „normal“ hielten.

Vgl. ALEXANDER und STAUB l.c., S. 345f.

Eine Analyse dieses Falls müsste dem Gedanken folgen, dass es „Verbrecher aus Schuldgefühl“ gibt, die mit ihrer Straftat eben jenes Verbrechen begehen, für das sie sich unbewusst immer schon schuldig gefühlt haben und bei welchen die reale gesetzliche Strafe das psychische Gleichgewicht dadurch wieder herzustellen vermag, dass ein erdrückendes „Strafbedürfnis“ befriedigt wird.

Vgl. Theodor REIK (1925): Geständniszwang und Strafbedürfnis. Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie. In: MOSER l.c., S. 9-192.

Wollte man diesen Fall also gründlich verstehen, so hätte sich Frau Lefebvre einer psychoanalytischen Behandlung unterziehen und erlauben müssen, dass ihre Fallgeschichte der Öffentlichkeit mitgeteilt wird.

Psychoanalytiker lehnen die Gutachtertätigkeit in strafrechtlichen Prozessen allerdings ab, weil ein Verstehen, das sich in den Dienst des Verurteilens stellt, aus verschiedenen Gründen inakzeptabel ist. Zum einen sind psychoanalytisch gewonnene Aussagen nur Hypothesen, die dem Wahrheitsanspruch des Gerichts nicht genügen, zum anderen wäre die Anwendung der psychoanalytischen Behandlungsmethode zur Erstellung eines Gutachtens in jedem Fall ein Verrat am Klienten, der Vertrauen fasst, sich verstanden fühlt und etwas preisgibt, das später möglicherweise gegen ihn verwendet wird. Verstehen im Interesse des Verurteilens ist mit der humanistischen Haltung, die dem psychotherapeutischen Berufsethos zugrunde liegt, nicht zu vereinbaren.

Vgl. Albrecht HIRSCHMÜLLER (1990): Psychoanalyse und Justiz. Der Psychoanalytiker als Gutachter im Strafverfahren. Unveröffentlichtes Manuskript. Tübingen.

Das war bereits den Pionieren der psychoanalytischen Kriminalistik bewusst. Darüber hinaus zeigte sich zudem, dass alle Versuche, die Psychoanalyse als Hilfsmittel für die Justiz fruchtbar zu machen, als kontraproduktiv und störend empfunden wurden. „Der Anwalt musste erfahren, dass die Psychoanalyse sich nicht dafür eignet, einseitig dem Verteidigungsinteresse zu dienen, der Richter sah, dass das Eindringen der Psychoanalyse in den Gerichtssaal ihm sein schweres Amt nicht erleichtert, ihn nicht von der Verantwortung befreit, sondern ihn vor neue, oft unlösbare Aufgaben stellt, seine Verantwortung ungemein mehr belastet, ohne ihm gleichzeitig den Ausweg aus dem Dilemma zu zeigen.“

Hugo STAUB (1931): Einige praktische Schwierigkeiten der Psychoanalytischen Kriminalistik. In: Imago, XVII, S. 217. Zit. n. MOSER l.c., S. 426.

So gesehen scheint ein besseres und gründlicheres Verstehen der Täterpersönlichkeit in unversöhnlichem Gegensatz zur Notwendigkeit des Verurteilens zu stehen, ganz abgesehen davon, dass aufgrund der gegenwärtig rasanten Zunahme von strafrechtlichen Verurteilungen aus zeitlichen und strukturellen Gründen ein tieferes Verständnis für die Tatmotive gar nicht mehr erbracht werden kann.

Die praktische Unterscheidbarkeit von Individuum und Gesellschaft ist eine kulturanthropologische Konstante, die in vielen Bereichen des Lebens zum Ausdruck kommt. In Bezug auf die theoretische Betrachtung sowohl des kriminellen Verhaltens wie auch des richterlichen Urteilens zeigt sie sich in der disziplinären Teilung von Psychologie und Soziologie, und in wissenschaftstheoretischer Hinsicht als Verhältnis von Verstehen und Erklären bzw. von Hermeneutik und Empirie.

Die gegenwärtige akademische Psychologie basiert natürlich nicht nur auf hermeneutischem Verstehen, sondern hat sich die Naturwissenschaften zum Vorbild genommen und ist überwiegend positivistisch ausgerichtet.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften lassen sich seit langem vielfache Versuche erkennen, die Disparität von Individuum und Gesellschaft theoretisch und methodisch zu überwinden und die Gegenüberstellung von „Inhalt und Form“ zu überbrücken. Die jüngeren Beispiele dafür sind Diskursanalyse, Ethnomethodologie, Narrationsforschung oder Konversationsanalyse

Vgl. Gabriele LÖSCHPER (1999): Bausteine für eine psychologische Theorie richterlichen Urteilens. Baden-Baden.

– Ansätze, die im Einzelfall das interaktive Geschehen im Strafverfahren zwar deutlicher machen können, den grundsätzlichen Antagonismus von Einzelheit und System jedoch nicht aufzulösen imstande sind.

Gesetze und Präjudizien seien, so meint Johann BRAUN, ihrer Funktion nach vor allem Argumentationsverbote, die aus der Fülle der an sich denkbaren rechtlichen Argumente einige wenige herausfiltern und mit besonderer Autorität ausstatten, alle anderen dagegen mit einem Unwerturteil versehen und ausscheiden. Die Verwissenschaftlichung der Rechtsanwendung bestehe infolgedessen darin, die Wirkungsweise dieser so genannten „Rechtsquellen“ immer mehr zu perfektionieren und nicht nur den Blick des Rechtsanwenders auf einen schmalen Ausschnitt sozialer Realität zu beschränken, sondern auch sein Denken auf einige wenige im Anwendungsbereich eines Gesetzes oder Präjudizes allein zulässige Funktion zu reduzieren. Je enger der fachliche Horizont des Juristen dadurch gesteckt sei, desto dringlicher mache sich gelegentlich das Bedürfnis bemerkbar, auch einmal über diesen begrenzten Bereich hinauszublicken und nach Zusammenhängen Ausschau zu halten, die der handwerklichen Routine möglicherweise einen weitergehenden Sinn verleihen.

Vgl. Johann BRAUN (2001): Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert. München. Vorwort, S. VII.

In diesem Sinne soll im Folgenden die Frage, ob normverletzendes Verhalten – um nicht zu sagen „das Böse“ im Menschen – aus einer defizitären Persönlichkeitsentwicklung ableitbar ist, und ob im Fall der Bejahung sich dann nicht das Strafmaß verringern bzw. die Gesetzgebung geändert werden müsste,

Diese Frage wird übrigens sehr schön und facettenreich in Bernhard SCHLINKs Roman „Der Vorleser“ entfaltet.

unter einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet werden. Diese von der kritischen Kriminologie gern gestellte Frage lässt sich zwar nicht allgemeingültig beantworten, aber die Problemlage wird klarer, wenn wir einen Ausflug in die Wissenschaftsgeschichte machen und das oben genannte Verhältnis von Verstehen und Verurteilen zunächst durch dasjenige von Verstehen und Erklären ersetzen.

II.

Die Abgrenzung von Verstehen und Erklären stammt ursprünglich von Wilhelm DILTHEY (1833-1911) und meint, dass es sich dabei um zwei vollkommen unterschiedliche und einander fremde Formen wissenschaftlichen Vorgehens handelt, die sich zudem auf zwei ganz unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen. Das Erklären sei das Verfahren der Naturwissenschaften, die es mit der äußeren Welt zu tun haben – das Verstehen sei das Verfahren der Geisteswissenschaften, deren Gegenstand die innere Erfahrungswelt ist. Heinrich RICKERT (1863-1936) und Wilhelm WINDELBAND (1848-1915) haben diese Einteilung noch einmal umformuliert und durch die Begriffe Nomothetik und Idiographie ersetzt. Ihr Abgrenzungsversuch ist methodenorientiert. Die Unterscheidung von Verstehen und Erklären decke sich nicht unbedingt mit der Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften, sondern bezeichne lediglich zwei verschiedene Arten der wissenschaftlichen Erkenntnisweise:

Nomothetik sei das Suchen nach den allgemeinen Gleichförmigkeiten und immer widerkehrenden Regelmäßigkeiten, die dann in die Form axiomatischer Grundannahmen (Gesetze) gekleidet werden können.

Idiographie sei die Betrachtung des Einzelnen in seiner geschichtlich einmalig bestimmten Gestalt.

Es sei allerdings möglich, dass ein und derselbe Gegenstand zum Objekt sowohl einer nomothetischen als auch einer idiographischen Untersuchung gemacht wird. Helmut SEIFFERT charakterisiert die beiden Verfahren folgendermaßen: Die nomothetischen Wissenschaften (auch analytische, systematische, praktische, normative, Erfahrungs- oder Handlungswissenschaften genannt) entstehen aus dem Nichtbilligen des Gegebenen, aus dem Bedürfnis, das Bestehende zu verändern und zu verbessern. Die idiographischen (auch historischen oder hermeneutischen) Wissenschaften beruhen dagegen auf dem Nichtleugnen des Gegebenen. Sie nehmen nur verstehend hin, was gegeben ist, und greifen nicht verändernd ein. Erkenntnis und Interesse nennt Jürgen HABERMAS dieses Verhältnis von Verstehen und Erklären, das er später in Bezug auf die Rechtstheorie als Verhältnis von Geltung und Faktizität beschreibt.

Jürgen HABERMAS (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 2. Aufl. Frankfurt/Main.

Ein Beispiel für ein Phänomen, das im Sinne von Windelband sowohl zum Objekt einer idiographischen als auch einer nomothetischen Untersuchung gemacht werden kann, findet sich in GOETHEs naturwissenschaftlichen Schriften, denn die waren idiographischer, d.h. hermeneutischer Natur. Goethes Farbenlehre ist zwar physikalisch nachweislich falsch, sie stimmt nicht mit den von Isaac Newton und allen nachfolgenden Physikern experimentell gewonnenen Ergebnissen überein,

„Weißes Licht“ z.B. ist für Goethe die reinste und klarste Farbe. Nach Newton dagegen enthält weißes Licht alle anderen Farben des Spektrums. Ein Prisma zerlegt es ja in seine Bestandteile.

aber sie besitzt dennoch einen ethisch-ästhetischen Wert, der sie bedeutsam bleiben lässt. Goethe betrachtet die Natur nämlich nicht wie ein cartesianisch denkender Wissenschaftler, der analysiert und zerlegt, sondern eher wie ein Theaterbesucher, den es gar nicht danach verlangt, hinter die Kulissen zu schauen, um den Mechanismus der Täuschung zu erforschen. (So beschreibt Adolf PORTMANN

Vgl. Adolf PORTMANN (1956): Biologie und Geist. Zürich. S. 273-292.

die Goethe‘sche Haltung.) Goethe ist also ein Forscher, der die Illusion, der er erliegt, als Kunstwerk genießt und allenfalls versucht, den „Sinn“ des Stückes zu erfassen. Gegen den experimentellen Eingriff in die Naturabläufe bekundet er einen deutlichen Widerwillen, er hält ihn für gewaltsam und versucht lieber, die Natur so zu „verstehen“, wie sie sich dem Auge des Menschen darbietet. Jedes menschliche Eingreifen in das Geschehen würde den ursprünglichen Zustand des Forschungsgegenstandes stören und verändern – (ein Problem, das in der Heisenberg’schen Unschärfe-Relation ja eine seriöse physikalische Begründung findet). Goethe übt sich also in der Rolle des aufmerksamen, aber zurückhaltenden „Liebhabers“. Er schreibt: „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegen­stand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“

Zit. n. PORTMANN, l.c. S. 279.

Mit den Worten eines „alten Mystikers“ drückt er diese Haltung lyrisch aus:

Wär nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?

J. W. v. GOETHE (1810): Zur Farbenlehre. In: Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe Bd. 16, Leipzig 1927, S. 425-647, hier S. 436. – In Bezug auf die eingangs gestellte Frage hieße das: Läge nicht im Strafrichter auch ein bisschen kriminelle Energie, so könnte er seinen Angeklagten nicht verstehen.

Diese Art von Naturwissenschaft mag man nun zu Recht ziemlich versponnen finden,

Sogar Schiller meinte kopfschüttelnd, nachdem Goethe ihm die Grundzüge seiner „Metamorphose der Pflanzen“ vorgetragen hatte: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.“ Vgl. GOETHE: Nachträge zur Metamorphose. In: l.c., S. 222.

sie enthält aber tatsächlich alle wesentlichen Determinanten hermeneutischen Verstehens, womit gemeint sind:

  • a) Subjektivität
  • b) Abstinenz von eingreifendem Handeln
  • c) Unbrauchbarkeit für die Zwecke pragmatischer Handlungsanweisung bzw. technischer Empfehlung.

In Gegenüberstellung dazu wird das erklärende, analytische Verfahren durch folgende Determinanten bestimmt:

  • a) Objektivität
  • b) Experimentelles Eingreifen in den Forschungsgegenstand
  • c) Brauchbarkeit für die Zwecke praktischer Handlungsanweisung und technischer Empfehlung.

Das Erklären als Aussageform der empirischen Wissenschaften beruht auf axiomatischen Gesetzen, die über experimentelle (empirische) Untersuchungen, welche prinzipiell mit demselben Ergebnis von anderen Forschern zu jeder Zeit wiederholt werden können, induktiv gewonnen werden. Die empirischen Wissenschaften messen, was messbar ist, und machen messbar, was nicht messbar war, d.h. sie „operationalisieren“ ihre Forschungsgegenstände. Diese so gewonnenen Aussagen, die repräsentativ und intersubjektiv nachvollziehbar sein sollen, erscheinen in der Form mathematischer Verhältnisse und beanspruchen dadurch „Objektivität“. Das Erklären entscheidet über die formallogische Alternative: richtig oder falsch bzw. wahr oder unwahr.

Das Verstehen dagegen wäre so gesehen also etwas qualitativ anderes als das Erklären. Oft wird gesagt, ersteres beruhe auf einer „ganzheitlichen“ Sicht der Dinge und sei aus diesem Grunde eher dem Gefühl zuzuschreiben. Ein Gefühl ist es aber eigentlich nicht, sondern vielmehr ein intellektueller Erkenntnisprozess von allerdings höchst subjektiver Natur. Ein Beispiel für die Subjektivität des Verstehens mag vielleicht der Witz sein. Ein Witz ist ja nun wahrlich nicht objektiv witzig, aber wer über ihn lachen kann, hat ihn auch verstanden, während ein Witz, der „erklärt“ werden muss, ganz offensichtlich nicht verstanden wurde und auch durch die Erklärung nicht mehr das Vergnügen hervorrufen kann, das ein spontan verstandener Witz bereitet, denn Witze verstehen ist eine Funktion des Unbewussten.

Vgl. Sigmund FREUD (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Studienausgabe Bd. IV, Frankfurt/Main 1970, S. 13-219.

Über die einzelnen Verstehensakte verschiedener Subjekte kann natürlich auch intersubjektiver Konsens hergestellt werden. Alle, die über den Witz lachen konnten, haben diesen Konsens hergestellt. Im geisteswissenschaftlichen Alltag wird ja fortwährend versucht, Konsens über jeweils subjektiv Verstandenes herzustellen, – ein Vorgang, dem sich die Etablierung der so genannten „Schulen“ oder Weltanschauungen verdankt. Das Verstehen ist also ein individueller Akt der „Bildung“, der meist auch mit einem Zuwachs an Selbsterkenntnis verbunden ist. Sokratisch gesprochen wäre Bildung demnach die Anregung von bewusstseinsbildenden Erkenntnisprozessen über die Vermittlung von Wissen.

So, wie Goethes Farbenlehre nur aus einer Haltung naturwissenschaftlicher Abstinenz heraus entstehen konnte, so ist hermeneutisches Verstehen nur dann möglich, wenn vom (experimentellen) Eingriff in den Forschungsgegenstand abgesehen wird. Im psychoanalytischen Therapieverfahren, dem Forum hermeneutischen Verstehens par excellence, gilt ja die so genannte „Abstinenzregel“, die dem Zweck dient, dem Analytiker das Verstehen zu ermöglichen, indem sie ihm verbietet, sich emotional in eine Situation unmittelbarer Betroffenheit zu begeben. Der Therapeut setzt seine eigenen Gefühle, die so genannte „Gegenübertragung“ zwar als Erkenntnishilfe ein, aber der Umstand, dass er mit dem Patienten keinen privaten Umgang pflegt, dass Liebe und Hass sich nicht auf dem Boden einer ernst gemeinten Beziehung entwickeln, ermöglicht beiden Beteiligten, das psychische Geschehen zu „verstehen“, anstatt es zu „agieren“. Abstinenz vom Agieren ist also eine außergewöhnliche Umgangsform, die im Alltag nicht praktiziert werden kann.

Die hermeneutischen Wissenschaften beanspruchen für sich das Attribut der Wertneutralität, da ihnen keine axiomatischen Gesetze zugrunde liegen. Sie können also weder zwischen richtig und falsch noch zwischen gut und schlecht entscheiden. Eine nachträgliche wertende Stellungnahme gehört dem eigentlichen Verstehen nicht mehr an. Und in der Tat ist das hermeneutische Verstehen, wie oben bereits beschrieben, nicht geeignet, in pragmatische Handlungsanweisungen umgesetzt zu werden. Pointiert gesagt: Der Ratschlag „Erkenne dich selbst“ beinhaltet nicht die praktische Anleitung, wie man das macht. Die hermeneutischen Wissenschaften stehen deshalb auch immer in Gefahr, als „unnütz“ abqualifiziert zu werden wie z.B. die Philosophie. Sie sind „nutzlos“, so wie das Lachen über einen Witz nutzlos ist. Sie sind aber Träger und Gradmesser der Lebensqualität einer Gesellschaft und in diesem Sinne unabdingbar.

III.

Im Positivismusstreit in der deutschen Soziologie stellten sich die streitenden Parteien, die einerseits das Verstehen als dialektische Methode (Theodor W. ADORNO) und andererseits das Erklären im Gewand des Kritischen Rationalismus (Karl R. POPPER) verteidigten, gegenseitig unter Ideologieverdacht und warfen einander vor, in ihrer Wissenschaft subjektive Werturteile zu fällen.

Vgl. Th. W. ADORNO et al. (1969): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied und Berlin.

Adorno erhob den Vorwurf, die sich wertfrei nennenden positivistischen Sozialwissenschaften seien mitnichten wertneutral, sondern seien beherrscht von einem ihnen selbst verborgenen Machbarkeitsinteresse mit dem Bestreben, die Möglichkeit zur Fällung von Werturteilen ganz anderer Art überhaupt erst zu schaffen. Die Anstrengung der Positivisten, eine „saubere“ sozialwissenschaftliche Methode zu begründen, aus der die subjektiven Wertungen eliminiert sind, solle nur der sozialtechnokratischen Verwertbarkeit von quantifizierten Aussagen dienen, damit soziale Verhältnisse im Interesse der politisch Mächtigen besser beherrschbar würden. Die andere Seite verteidigte sich: Der Verzicht auf den Anspruch an logisch definierte Wahrheit und Objektivität führe zu Parteilichkeiten und Relativismus. „Objektiv“ sei, so Popper, die Kategorie des logischen Widerspruchs, also die Widerlegung einer Hypothese durch logische Argumentation, was die Prägung des Begriffs „objektiv-verstehende Methode“ erlaube.

Schlichten ließ sich dieser Streit nicht, aber sein Inhalt betrifft auch die Rechtsprechung, denn deren Grundlage sind zwar Gesetze, diese Gesetze sind jedoch nicht unumstößlich wie mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten, sondern beruhen auf von Menschen getroffenen Werturteilen. Wenn vom Recht die Rede ist, wird seine Geltung in der Regel als selbstverständlich vorausgesetzt. Warum und in welcher Weise aber Recht gilt, diese Frage wird von Juristen gern gemieden, obwohl sie eines der Grundprobleme der Rechtswissenschaft und der Justiz darstellt. Das Recht ist zwar eine notwendige Bedingung humaner Existenz, weil andernfalls ein Zustand von Chaos und Anarchie einträte, in der Frage der „Richtigkeit“, „Angemessenheit“ oder „Wahrheit“ seines konkreten Inhalts ist es aber zu allen Zeiten primär ein Produkt menschlicher Setzung. In der Rechtstheorie nennt man dieses Problem die Frage nach dem Geltungsgrund.

Vgl. Bernd RÜTHERS (1999): Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts. München. S. 188ff.

Es ist in der Tat schwer zu sagen, woher die moralischen Werte stammen, die dem geltenden Recht zugrunde liegen. Manche sprechen von „Glaubensmächten“ (Karl Jaspers), manche von „subjektiven Wertordnungen“ (Max Weber), manche meinen, die in einer Gesellschaft objektiv vorhandenen Werte würden in einer Art intuitiver Erkenntnis erfasst (Max Scheler, Nicolai Hartmann). Zu welchen rechtsphilosophischen Schlüssen man auch kommen mag, das Recht ist unsicher und wandelbar, über seine Gültigkeit und Rechtmäßigkeit kann und muss in jeder Generation neu verhandelt werden. Juristische Gesetze können sich also ändern und haben im Laufe der Geschichte bereits gewaltige Umformungen erlebt. Dennoch ist die Jurisprudenz ihrem Erscheinungsbild nach eine nomothetische Wissenschaft, denn Urteile können nur dann gefällt werden, wenn verbindliche Gesetze zugrunde liegen. Nulla poena, nullum crimen sine lege.

Diese wissenschaftstheoretische Zwischenstellung der Rechtswissenschaft zwischen Nomothetik und Idiographie zeigt an, dass sie zweierlei Bedürfnissen gerecht werden muss: Zum einen den Ansprüchen der Gesellschaft an ein objektives Sanktionssystem, zum anderen der Tatsache, dass menschliches Verhalten im Gegensatz zu einer mathematischen Gleichung „unberechenbar“ ist und darum immer individuell betrachtet werden muss.

Gesellschaft und Individuum repräsentieren sozusagen zwei verschiedene Systeme, die miteinander in Konflikt geraten können. Gesellschaftliche Ordnung basiert auf dem Primat der jeweils herrschenden Vernunft, das individuelle Verhalten dagegen kann auch aus anderen Antriebsquellen gespeist werden. Im Fall krimineller Abweichung oder auch künstlerischer Produktion treibt der Mensch nicht, sondern lässt sich treiben bzw. wird er von anderen Mächten als der abendländischen Vernunft getrieben.

Wir hatten in Goethe sicherlich den besseren Künstler, aber auch den schlechteren Ingenieur, und wenn es nur solche zartfühlenden und zögerlichen Forscher wie ihn gegeben hätte, dann könnte heute zwar kein ABC-Krieg in der Welt geführt werden, aber in den Wohnungen der Menschen würde auch kein elektrisches Licht brennen, wir würden Wäsche in Zubern waschen, mit Holz heizen und vielleicht immer noch an mittelalterlichen Epidemien sterben.

In Zeiten steigender Kriminalitätsraten und dem lauter werdenden Ruf nach härterer Bestrafung und strengeren Gesetzen sei hier dennoch eine Lanze für das „nutzlose“ Verstehen gebrochen, denn darin verbirgt sich ein wertvolles Potential an Humanität, das gerade in einer zunehmend technologisierten Gesellschaft nicht verloren gehen darf. Abschließend sei also noch einmal gesagt: Individuum und Gesellschaft sind zwei Verschiedenheiten, die dennoch zum selben Ganzen gehören und die zwei unterschiedliche Aspekte menschlichen Daseins repräsentieren. Im Dualismus von Verstehen und Erklären, von Idiographie und Nomothetik, von Erkenntnis und Interesse, von Hermeneutik und Empirie und nicht zuletzt im Verhältnis von Verstehen und Verurteilen spiegelt sich diese Tatsache.

Literatur:

ADORNO, Theodor W. et al. (1969): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied und Berlin.

ALEXANDER, Franz und STAUB, Hugo (1929): Der Verbrecher und seine Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen. In: MOSER (1971) S. 205–411.

BRAUN, Johann (2001): Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert. München.

FREUD, Sigmund (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Studienausgabe Bd. IV, Frankfurt/Main 1970, S. 13-219.

GOETHE, J. W. v. (1810): Zur Farbenlehre. In: Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe Bd. 16, Leipzig 1927, S. 425-647.

HABERMAS, Jürgen (1977): Erkenntnis und Interesse. 4. Aufl. Frankfurt/Main.

HABERMAS, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 2. Aufl. Frankfurt/Main.

HIRSCHMÜLLER, Albrecht (1990): Psychoanalyse und Justiz. Der Psychoanalytiker als Gutachter im Strafverfahren. Unveröffentlichtes Manuskript. Tübingen.

LÖSCHPER, Gabriele (1999): Bausteine für eine psychologische Theorie richterlichen Urteilens. Baden Baden.

MOSER, Tilmann (1971) (Hg.): Psychoanalyse und Justiz. Frankfurt/Main.

PORTMANN, Adolf (1956): Biologie und Geist. Zürich.

REIK, Theodor (1925): Geständniszwang und Strafbedürfnis. Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie. In: MOSER (1971) S. 9-201.

RÜTHERS, Bernd (1999): Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts. München.

SCHÜTZ, Alfred (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Wien.

SEIFFERT, Helmut (1970): Einführung in die Wissenschaftstheorie. 2 Bde. München.

 

(c) Gunda Hinrichs, Tübingen 2002